Die Große Freiheit

Raketenfeinstaub Januar 22, 2021


Mehrere Stunden verflogen, die Tabs sammelten sich in ihrem Browser, sie verglich, googelte, suchte ziellos und doch getrieben.

Ob Online-Shopping gegen Verlorenheit hilft?, fragte sie sich, während sie müde durch Top-Sales, Traum-Angebote und Hyper-Schnäppchen klickte. Sie wollte nichts kaufen, sie brauchte nichts, sie wusste, dass sie nichts kaufen würde. Das Klicken und Starren lenkte sie ab. Es diente der Entspannung. Ob es das am Ende wirklich tat, wusste sie hingegen nicht. Meist fragte sie sich nur, wo die Zeit verblieben war.

In einem Zeitungsartikel stand, dass gerade so viele Menschen wie noch nie sich mit Online-Shopping die Zeit vertreiben. Sie selbst füllte digitale Warenkörbe, nur um sie wieder zu schließen. Die Pandemie war Schuld, sagte die Zeitung. Auch für erhöhten Tabak- und Alkoholkonsum sowie für Binge Watching. Das ist gut, dachte sie, wenn die Schuld nicht bei einem selbst liegt. Verantwortung braucht kein Mensch, beschloss sie. Auf Komaglotzen hatte sie allerdings keine Lust. Das machte sie nervös. Also öffnete sie einen weiteren Tab in ihrem Browser: voller Angebote einer beliebten Surfmarke.

Eigentlich wollte sie die nicht Zeit nicht „vertreiben“ – sie wollte das Gegenteil: Sie wollte viel mehr Zeit. Sie wollte sie sammeln. Sie festhalten. Sie nie vergehen lassen. Sie schloss einen Tab und öffnete drei neue. Es machte keinen Spaß, aber sie tat es trotzdem und fragte sich, während sie sich ein paar Sneaker in fünf Farbvarianten ansah, ob es den anderen Menschen auch so ging.

Die große Freiheit.
Liebe in Freundschaft und Partnerschaft.
Ein Zuhause.

Das würden alle Menschen suchen, sagte der Radiomoderator in seiner morgendlichen Gute-Laune-Stimme zwölf Stunden zuvor. Das beißend helle Licht blendete sie und der Zahnarzt ließ den Stuhl herunter.
Von oben sah sie die Savanne an. Die große Freiheit, dachte sie. Das war, wonach sie suchte, was sie immer wollte. Die große Freiheit, das klang nach Verheißung. Nach Sehnsucht. Vielleicht sogar nach Wahrheit.

Sie blickte auf ihre beigen Vans, die von der Straße grau gefärbt worden waren.
M28 und M47, sagte der Zahnarzt. Die Arzthelferin nickte und notierte sich irgendwas. Die große Freiheit war etwas, worin das pure Leben steckte. So etwas wie die Essenz von allem. Sie atmete tief ein.
Sieht soweit alles super aus, sagte er, haben Sie irgendwelche Beschwerden?
Sie atmete zu schnell aus, schüttelte den Kopf und sagte dann: Naja, nur der freiliegende Zahnhals, aber das ist schon eine Weile so und schmerzt auch nur bei heiß-kalt.
M17, ja, habe ich gesehen, ist aber nicht wild.

Sie schaute noch einmal auf die Savanne. Diese unendlich Weite, die flirrende Hitze. Die Zebraherde galoppierte wild auf sie zu. Wind. Sie wollte heißen Wind auf ihrer Haut fühlen. Jetzt. Sofort. Und in diese unendlich Weite eintauchen. Drei Stunden einfach Richtung Horizont fahren, der nicht enden würde. Dann stand sie im Flur, den klinischen Geruch der Praxis einatmend.

Ein Zuhause, dachte sie. Das ist so eine Sache. Klar, jeder wünscht sich ein Zuhause. Aber was ist das? Ist das was Bleibendes? Was für ein begrenztes „Immer“?

Melden Sie sich dann Anfang Januar für einen neuen Termin, sagte die junge Frau an der Rezeption.
Gerne, mach ich, sagte sie und öffnete die Tür.

Ein Schutzraum, dachte sie, ein Zuhause ist ein Schutzraum. Die Tür fiel langsam hinter ihr zu. Da bin ich „Ich“ und fühle mich sicher. Die Antwort stellte sie zufrieden. Zumindest für einen Moment und sie verließ das Gebäude.

Die Straße war nass und der Verkehr rauschte darauf. Sie mochte das Geräusch, dass das Gummi auf dem verregneten Asphalt hinterließ.

Und Liebe? Sie rieb sich die Augen. Im Brunnen der Autoinsel war das Wasser abgestellt, die großen Steinplatten bildeten einen Raum, den es sonst nicht gab.

Liebe.

Sie ging auf den silbernen VW Kombi zu und betrachtete die Beulen, die die Kastanien hinterlassen hatten.

Ja, dachte sie, mehr als ein „Ja“ braucht es dafür nicht.

Jetzt, als Google abstürzte und sämtliche Warenkörbe ins Nirvana schoss, erinnerte sie sich an die große Freiheit. Danach suchte sie. Ihr Bildschirm wurde zu einem riesigen schwarzen Loch, in dem sie sich spiegelte. Die Sehnsucht packte sie mit einem Mal und gleichzeitig bereitete sich eine Angst aus. Eine Angst doch niemals wieder dieses Gefühl zu haben.