Leuchtend roter Pylon im Wald

Raketenfeinstaub November 29, 2020

Es war der Zug, der in die falsche Richtung fuhr. Eine Stunde Umweg. Gut, das kann jedem passieren, dachte sie, als sie an einem Bahnhof in der Pampa auf einen anderen Zug wartete, der sie wieder in die richtige Richtung bringen sollte und einen älteren Herrn dabei beobachtete, der durch einen Bauzaun urinierte. Ob er weiß, das man sein Ding sieht, fragte sie sich und drehte sich weg.

Sie war müde. Mal wieder. Wie so oft in letzter Zeit. Mittlerweile war die Falte um ihren Mundwinkel schon ganz deutlich zu sehen, ihre Lippen waren ausgetrocknet, an manchen Stellen aufgesprungen, kleine Hautfetzen standen spröde ab.

Der Himmel war an dem Morgen grau, die Luft feucht und rauchig. Jeden Winter wunderte sie sich, woher dieser rauchige Geschmack in der Luft kam, vergaß dann aber dem auf den Grund zu gehen und wunderte sich im nächsten Jahr erneut darüber.

Im Zug versuchte sie zu arbeiten, ihre Gedanken verloren sich jedoch immer wieder zwischen den leeren Sitzplätzen. Sie klappte den Laptop zu, steckte ihn zurück in den schwarzen Rucksack.
Draußen raste die Landschaft vorbei, hielt einen Moment an, weil ein anderer Zug vorbei musste oder weil sie an einem Bahnhof hielten, so genau wusste sie das in dem Moment nicht. Schließlich setzte sich die Landschaft wieder Bewegung: Sie sah rostige Autoteile, braune Hecken, ein Klettergerüst. Dann wurde die Landschaft schneller, so schnell, dass sie zu braunen und grauen Streifen verschwamm.
Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, atmete langsam aus, hielt inne. Dann riss sie die Augen wieder auf: Aus irgendeinem Grund verursachten die geschlossenen Lider eine drückende Übelkeit.

Sie öffnete erneut den Reißverschluss des schwarzen Rucksacks, zog den Laptop hervor, stellte ihn auf den Tisch, klappte ihn auf und starrte für eine Weile auf den dunklen Display. Dann zwang sich erneut zu arbeiten. Ist nur eine kleine Textkorrektur, dachte sie und schob Buchstaben hin und her, mal einer zu viel, mal einer zu wenig, hier ein anderes Wort, dort der falsche Fall. Es klappte ganz gut. Sie freute sich. An einer Stelle konnte sie einen ganzen Absatz neu strukturieren. Manchmal ist es wie Tetris, dachte sie und schmunzelte, die deutsche Sprache wie Tetris, die Worte mussten wie Bauklötze einfach passend zusammengeschoben werden, dann funktionierte ein Satz und letztlich ein ganzer Absatz. Man musste nur ein Gefühl dafür entwickeln – das war alles. Den meisten Menschen fehlt dieses Gefühl, dachte sie.

Ihr Fahrschein bitte, drückte sie eine Stimme auf den grauen Zugsitz und die bunten Sprachklötze verloren sich im Display ihres Laptops. Sie betrachtete die weißen Handschuhe, dann die hellblaue Maske und schließlich die Augen hinter einen feinen Brillengestell.
Bitte, sagte sie und hielt das Handyticket in Richtung der weißen Handschuhe. Diesmal klappte sie den Laptop endgültig zu.

Am Bahnhof drängelte sich ein Mann mit blaugrauen Sicherheitsschuhen vor. Er hatte es eilig auf die Rolltreppe zu gelangen. Sie zuckte mit den Schultern, es war ihr egal, sie hatte Hunger. Sie sah, wie er zwei weitere Menschen auf der Rolltreppe anrempelte, hörte, wie er schimpfte, fluchte, irgendwas vor sich hin schrie, dann blickte sie auf ihr Handy.

Keine Nachricht, das ist gut, dachte sie. Ihre Abwesenheit im Homeoffice wurde scheinbar noch nicht bemerkt. Keine Nachricht, hat das was zu bedeuten?, fragte sie sich. In den letzten Tagen hatte sich ihre Beziehung ein wenig entfernt angefühlt, eine Distanz war da, wo keine sein sollte. Keine Nachricht, sie drückte auf die Seitentaste ihres iPhones und der Display verdunkelte sich.

Sie ging zu ihrer Wohnung. Auch hier schmeckte die Luft rauchig. Auf dem Weg kaufte sie sich ein Falafelbrötchen mit eingelegtem Gemüse und ein Walnussteilchen. Eigentlich wollte sie nur ein Käsebrot, doch der Bio-Bäcker suggerierte mit den Falafeln und den Walnüssen ein gesundes Versprechen und zwang sie auf subtile Weise dieses einzukaufen. Immerhin schmeckt das Brötchen, dachte sie. Das Walnussteilchen legte sie in den Kühlschrank.

In ihrer Wohnung tat sie nicht mehr viel. Sie checkte E-Mails, schrieb ein paar Zeilen und plauderte mit ihrem Mitbewohner. Dann legte sie sich aufs Bett und wartete. Auf was sie wartete, wusste sie nicht so genau. Aber sie mochte es zu warten. Schließlich dachte sie so lange über das vergangene Wochenende nach bis es dunkel wurde und die Nacht den grauen Tag verschwinden ließ.

Sie würde dem Wetter und der Nacht gerne einen Vorschlag machen, wohl wissend, dass es schier unmöglich ist, würde sie gerne Tage im kompletten Nebel gegen Dunkelheit eintauschen. Die Dunkelheit ist weniger deprimierend, dachte sie, der rauchige Nebel erdrückt einen, stiehlt die Luft zum Atmen, man erstickt förmlich. Aber das würde wohl nicht funktionieren und so musste sie noch einige Tage in diesem Nebel mit dem rauchigen Geschmack ausharren.

Etwas später ging sie spazieren. Als sie zurück kam, schrieb sie, während ihr Mitbewohner mal wieder „Take me to Church“ pfiff:
Du leuchtend roter Pylon im Wald heute Abend sah ich Krokodile im Rhein schwimmen, die Theodor-Heuss-Brücke leuchtete blau, orange und rot, das Wasser schimmerte im Farbspiel und der Nebel war für einen Moment verschwunden.