Verloren um Dickicht des Geistes
„Dein Blick ist so traurig“, sagte die Person im Spiegel.
Sie bewegte kaum merklich den Kopf von links nach rechts. Ihre Augen waren aufgequollen, die Lippen rot angeschwollen.
„Nein, nur nachdenklich“, erwiderte sie und musterte das Grün ihrer Iris. Je nach Lichteinfall schimmerte das Grün mal moosfarben, mal ähnelte es Reptilienhaut, mal sah es aus wie Pflasterstein. Es war schwer auszumachen, an was ihre Augenfarbe erinnerte. Sie zuckte mit den Schultern und drehte sich weg.
Seit Tagen fiel es ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Dabei wollte sie ursprünglich nur herausfinden, wer sie war.
Im Grunde eine banale Frage. Ganz leicht, simpel, das Einfachste auf der Welt, denn wer sonst sollte es besser wissen, als sie selbst?
Sie fuhr sich mit den Fingern durch die dunkelblonden Haare. Die Luft im Raum schmeckte rauchig. Vielleicht hatte ihr Großvater mal wieder vergessen die Kamintür zu schließen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein anderer Gedanke ihn erfasste und er das gerade entzündete Feuer alleine ließ. Sich auf einmal im Garten neben den Johannisbeersträuchern wieder fand. Unwissend, was er dort tat.
Vielleicht waren sie sich ähnlicher, als sie dachten, überlegte sie, während sie die Treppe herunter ging, um nach dem brennenden Holz zu sehen. Ihr Großvater verlor die Gedanken und sie verlor sich in ihnen. Eine Aporie des Geistes.
„Großvater?“, sagte sie.
Er antwortete nicht.
„Ob es eine Strafe ist?“, blickte sie sich um, eine Strafe, weil sie zu weit gegangen war, Zusammenhänge suchte, wo keine waren. Zu tief in Erinnerungen verschwand, dass sie das Jetzt nicht mehr greifen konnte? Kismet – die Frage nach einer Strafe glich dem göttlich zugestellten Los.
„Großvater?“, fragte sie ein zweites Mal und schüttele den Kopf.
Das Ich ist ein Labyrinth, ein Dschungel, aus dessen Dickicht es keinen Ausweg gibt, hatte ihr Großvater am Abend zuvor gesagt. Sie sah das Feuer im Karmin und beobachtete, wie der Qualm zur Zimmerdecke hochstieg.
„Du bist so leise“, flüsterten die Stimmen. Sie liebte es dem Feuer dabei zu sehen, wie es das Holz verschlang. Die Flammen flackerten auf einem dicken Holzstamm, tanzten und fraßen sich gleichzeitig immer tiefer in das, was mal ein Baum war.
Sie blickte auf ihre Hände und wunderte sich, wie ihr Großvater es noch schaffte, die schweren Holzkörbe ins Haus zu tragen.
Die Flammen legten sich wie Schlangen um Zweige und Äste, hielten sie fest, krochen langsam in sie hinein bis sie zerfielen.
Da stand er. Am Schuppen. Ihr Großvater hielt eine Schaufel in der Hand. Draußen regnete es in Strömen. Doch das schien ihn nicht zu stören. Nicht einmal eine Jacke hatte er an. Er blickte suchend in ihre Richtung.
Sie schüttelte sanft den Kopf.
„Komm rein, ich habe Tee für uns gemacht.“ Er lächelte.