Closer

Raketenfeinstaub Oktober 17, 2020

Für „dazwischen“ gibt es kaum Synonyme. Man befindet sich entweder zwischen Personen, Gegenständen, Sachen oder Orten.
Zwischen Welten, Zeiten oder Gefühlen geht scheinbar nicht. Dafür ist dazwischen zu konkret und Gefühle zu abstrakt.
Welten gibt es ja ohnehin nicht im Plural, von Zeiten mal ganz abgesehen.

Stranded in a spooky town
She took my heart, I think she took my soul

Das Licht in der Fensterscheibe glänzt altrosa und im Hintergrund redet eine angenehme Frauenstimme. Ich habe Hunger. Die Maske macht alles nur schlimmer.
Ich habe gelernt, dass man sich entscheiden muss. Dazwischen heißt irgendwann verloren gehen.

With the moon I run

Gleich kommt Mannheim. Musik, Pop Akademie, Graffiti und Beton. Viel mehr fällt mir erstmal nicht zu Mannheim ein.

Where am I know

Alles Zufälle, sagt sie. Hornbach und Erotik zeigen sich orange in der Nacht.
Ich mag Zufälle: Du zwischen den Menschen auf einem Weinfest und mein Herz, was seit dem schneller schlägt.

And it’s coming closer

So sagt man es doch, wenn man verliebt ist?

Letztes Jahr war ich in Mannheim, platzt ganz unvermittelt die Erinnerung herein. In einem Vorort, enge Straßen, es hat geregnet. Dort ich habe das erste Mal meine Texte zu Musik gelesen. Faix, Sänger und klassische Gitarre.

Ich muss gleich raus.
Die Ansage im ICE empfiehlt die linke Seite als Ausstieg.
Humor zwischen den leeren Plätzen.
Wir werden langsamer.

Du in meinen Gedanken.
Mannheim. Jetzt.

Kursiv: „Closer“ von Kings of Leon

Ich halt dich nicht fest und lass dich nicht los.*

Raketenfeinstaub Oktober 10, 2020

Müde Augen.
Schweigen.
Der Körper noch ungelenk.
Draußen, nichts außer Regen.

Die Zeit zwischen uns ausgedehnt wie lilaner Schaumstoff.
Vorfreude schon verdrängt von den unvorhersehbaren Alltäglichkeiten.
Im Duell des mieseren Tages – du gewinnst.

Woher auf einmal all die Anspannung?
Woher auf einmal all der Stress?

Worte werden zu Zahlendrehern.
Berührungen zu Bauklötzen.
Ich renne ein Jahr zurück.
Bringe den süßen Enthusiasmus von damals mit.
Doch er verliert sich in der Idee.

Sind wir okay?

Bier in grünen Flaschen, ne Kippe und tausend rote Lichter.
Die uns wie dystopische Späher ansehen,
dazu der Wind im Kastanienbaum.
Verlierer schlafen besser, denke ich.

*Pocahontas, Annenmaykantereit

Herbstgeflüster

Raketenfeinstaub Oktober 7, 2020


Dein Herbst ist mein Frühling

Zuhause ist dazwischen, denke ich und schaue aus dem mit Rasterfolie verklebten Fenster des Reisebusses. Zu sehen gibt es nicht viel: Autobahn, Autobahnbaustelle, Autobahnverkehrsschilder und Autobahnabfahrten. Und natürlich jede Menge Autos, Kleintransporter und Lkws. Was zugegeben dann doch eine ganze Menge ist.
Auf der Rückbank sprechen zwei komplett schwarz gekleidete Frauen laut italienisch miteinander. Ihr medizinisch blauer Mundschutz hängt lässig unter dem Kinn und wirkt wie leuchtender Textmarker auf dem ganzen Schwarz.
Ich stecke die Kopfhörer in meine Ohren und lasse Nick Mulveys Coverversion „Moments of Surrender“ laufen. Der Himmel ist ähnlich grau wie der Autobahnasphalt und ich bin zu müde zum lesen.

I tied myself with wire
To let the horses run free
Playing with the fire until the fire played with me
Yeah

Draußen wird es nun endlich Herbst. Ich mag den Herbst, er ist jedesmal ein Versprechen auf Rückzug und Neubeginn. Alles Alte wird Stück für Stück abgeworfen, in einer feierlichen Zeremonie aus bunten Farben in umher wirbelnder Luft. Das raschelnde Laub bedeckt nun den Boden und zerfällt allmählich zu Konfetti. Der Herbstregen spült dann alles weg und die kürzer werdenden Tage fahren das System runter. Klingt nach Tiefenreinigung, denke ich, Tiefenreinigung hat eigentlich irgendwas mit Hauptpflege zu tun hat, sagt Google. Nun gut.
Ähnliches stelle ich mir auch für mich selbst vor: abwerfen, wegspülen, runterfahren. Das Selbst einfach mal als Konfetti durch den Kosmos wirbeln lassen und gucken, was entsteht.

Ich lehne meine linke Schläfe gegen die Fensterscheibe des Reisebusses: Sie ist kühl. Aber noch nicht kalt genug, um Brain Freeze zu bekommen. Zu deutsch: Kältekopfschmerz, das klingt nach ICD 10 und gleichzeitig sehr bürokratisch, dann doch lieber „ice cream headache.“ Die Reisebusvorhänge sind gelb, nein, curryfarben korrigiere ich mich selbst in Gedanken.

At the moment of surrender
Of vision over visibility
I did not notice the passers-by
And they did not notice me

Tiefenreinigung und Neubeginn.
Vielleicht mag ich das Dazwischen so gerne, weil es noch nicht entschieden ist, denke ich. Es ist nicht fest gelegt. Das Dazwischen ist ein endloser Neubeginn. Man weiß noch nicht, wie es wird, hat kein Bild. Im Neubeginn steckt immer ein Gefühl der Vorfreude und der Glaube daran, das alles anders wird.

To the rhythm of my soul
To the rhythm of my unconsciousness
To the rhythm that yearns
To be released from control

Das alles anders wird. Wieso will ich das alles anders wird, frage ich mich plötzlich. Und wenn, wie soll es denn anders werden? Und was ist alles? Was soll am Ende, also nach dem Herbst, aus dem Kokon schlüpfen? Ich bin überfragt und stelle mir curryfarbene Eiscreme vor. Das hilft für den Moment.

Die Italienerinnen in schwarz fragen sich derweil, in welche Stadt wir fahren. Zwischenstation für sie, denke ich, sie wollen nach Frankfurt. So viel habe ich verstanden. Ich packe langsam meine Sachen zusammen. Im Busgang riecht es nach Putzmittel. Endstation für mich, ich steige aus.

I did not notice the passers-by
And they did not notice me

Die Luft draußen ist feucht. Eine Trambahn rollt langsam von rechts an, während ich über die Straße laufe. Der Kioskinhaber lehnt an der Tür und raucht.

Später sagt F. : „Dein Herbst ist mein Frühling.“
Und ich antworte: „Ja, Frühling mag ich nicht. Zumindest nicht, wenn alles noch am Knospen ist. Dann sieht es draußen richtig schlimm aus. Kahl und matschig. Erst wenn alles blüht, ist es ok.“
F. lacht.

Ananasminze, Lavendel und Eigentlich

Raketenfeinstaub Mai 15, 2020

Dass „eigentlich“ kein Wort ist, wissen wir spätestens seit Kurt Tucholsky in unser Leben getreten ist. Überschriften aus drei Worten sind immer irgendwie nett und Begriffe wie „Lavendel“ funktionieren gut, da sie beide Gehirnhälften aktivieren. Zugegeben: „Ananasminze“ düst knapp an der Kitschgrenze vorbei. Aber gut – sie kommt im Text vor, also bleibt sie drin.

Eigentlich jedenfalls, eigentlich wollte ich über eine, nein – deine fiktive Shampoo-Sammlung schreiben. Und uneigentlich – denn das ist der wahre Kern hinter dem Eigentlich – war mir unbewusst bewusst, dass das falsch ist, denn du hast keine Shampoo-Sammlung.

Syoss Salonlong, Rituals Karma Shampoo und L’Oréal Botanical Fresh Care Lavendel aufgereiht, nebeneinander platziert – die gibt es so gar nicht.
Ich wollte mit den Shampoos sagen, dass Menschen gerne Dinge sammeln. Dinge, die ihnen am Herzen liegen, egal aus welchem Grund, sei es ein Ort, eine Erinnerung oder ein anderer Mensch. Meist ist es ja alles irgendwie zusammen.
Vielleicht wollte ich mit der fiktiven Syoss-L’Or’eal-Sammlung ein bedeutungsschwangeres Bild kreieren. Denn Menschen, die schreiben tun so etwas gerne, um ein mystisches „Mehr“ beim Leser zu erzeugen. Das diesen dann wiederum irgendwas ahnen, ihn subtile Botschaften zwischen den Zeilen aufspüren lässt. Aber wie schon gesagt, die Sammlung gibt es nicht und somit auch kein bedeutungsschwangeres Bild.

Lavendel erinnert mich jedenfalls an meinen Sommer in Barcelona. Mein Bruder war zur gleichen Zeit für ein Jahr in Avignon. Wir besuchten uns gegenseitig. Er brachte mir Lavendel-Öl aus der Provence mit und ich ihm T-Shirts. Meine ersten selbstgedruckten T-Shirts. Barrio el Born, enge Gassen, hier blieb es kühl selbst an den heißen Sommertagen. Es war eine Siebdruckwerkstatt in einer der vielen Seitenstraßen, in denen ich mich immer wieder verirrte. Handwerk, das man in Großstädten wie diesen nicht vermutet. Ich zeichnete und druckte, schrieb und ließ mich von der Stadt einfangen.

So viel zum Lavendel und der Erinnerung – hätte ich über die fiktive Shampoo-Sammlung geschrieben, wäre es so weiter gegangen:

Lavendel. Lavendel, ist das, was bleibt. Ich nehme die Shampoo Flasche in die Hand und rieche daran. Auf der Shampoo-Flasche liegt eine leichte Patina. Staubpartikel haben sich darauf niedergelassen sagend, dass Zeit vergangen ist. Dass Zeit vergangen ist. Ich muss lächeln.

Ok, aber so war es ja nicht. Denn die Shampoo-Flasche gibt es wie schon erwähnt nicht, die Syoss-L’Or’eal-Sammlung auch nicht, nur die Erinnerung an Barcelona, die gibt es und die Zeit, die vergeht.

„Die Nacht ist noch jung,
aber wir sind schon alt“ – singt Fynn Kliemann in meinem Ohr vor sich hin.
Zeit vergeht. Als könnte Zeit etwas anderes tun, als vergehen, denke ich. Sie zu fassen, wenn sie vergeht – ist wie Wolken greifen. Zeit zu verstehen, damit meine ich, sie wirklich in ihrer Essenz zu begreifen, sie zu fühlen, funktioniert nicht. Zumindest nicht für mich. Den süßen Duft des Lavendel-Öls kann ich hingegen immer noch riechen.

„Die Kerze noch warm
Aber die Füße sind kalt
Ich warte auf mehr“

Ich blicke raus und sehe den Regentropfen dabei zu, wie sie in die kleinen Pfützen fallen, die sich mittlerweile auf dem Balkon gebildet haben. Gestern haben wir Ananasminze, Nana-Minze, Pfefferminze und Mojito-Minze in alte Kochtöpfe gepflanzt. Ganz schön viel Minze, denke ich. Aber es war schön, etwas mit den Händen zu machen. Und mit dir.

„Ich brauche ’nen Rahmen
Du ziehst soweit auf wie du kannst“

„Wusstest du, das du das tust? Also mir ‚ nen Rahmen geben, den ich brauche. Auch wenn ich oft Angst habe, mir das einzugestehen“, hätte ich dich gerne gefragt. Ausgesprochen klingt es aber genauso kitschig wie Ananasminze, also hab ich’s gelassen und stattdessen Fynn Kliemann weiter zugehört und mir falsche Shampoo-Flaschen-Analogien ausgedacht.
Die Tomatenpflanzen sehen in den alten Kochtöpfen jedenfalls richtig schön aus, genauso wie das Rosmarin – oder ist es Thymian? Als hätte ich auf einmal botanisches Fachwissen. Der Basilikum wird nicht lange überleben, sagte ich, der vergeht schnell. Er vergeht schnell.
Da ist sie wieder die Vergänglichkeit, denke ich. Dieser unendliche Sog, der einen zieht, nicht loslässt. Manchmal würde ich gerne „Stop“ drücken, den Moment einfrieren mit dir, damit er nur eine Sekunde länger da ist, anhält. Geht aber nicht, ich weiß, schon klar. In meiner Vorstellung müssen wir nur die Luft anhalten und die Zeit steht still, ganz einfach.

„Ich will so viel
Du bringst mir bei
Dass Leben manchmal reicht
Immer hektisch nach außen
Doch mache ich mit dir heimlich Pause
Ich wollt dir nur sagen
Ich komm gern nach Hause“

Meine Füße beginnen zu kribbeln. Sie sind eingeschlafen. Ich muss aufstehen. Kennst du die letzten drei Zeilen aus dem Song?
Ich halte dann mal die Luft an.