Herbstgeflüster

Raketenfeinstaub Oktober 7, 2020


Dein Herbst ist mein Frühling

Zuhause ist dazwischen, denke ich und schaue aus dem mit Rasterfolie verklebten Fenster des Reisebusses. Zu sehen gibt es nicht viel: Autobahn, Autobahnbaustelle, Autobahnverkehrsschilder und Autobahnabfahrten. Und natürlich jede Menge Autos, Kleintransporter und Lkws. Was zugegeben dann doch eine ganze Menge ist.
Auf der Rückbank sprechen zwei komplett schwarz gekleidete Frauen laut italienisch miteinander. Ihr medizinisch blauer Mundschutz hängt lässig unter dem Kinn und wirkt wie leuchtender Textmarker auf dem ganzen Schwarz.
Ich stecke die Kopfhörer in meine Ohren und lasse Nick Mulveys Coverversion „Moments of Surrender“ laufen. Der Himmel ist ähnlich grau wie der Autobahnasphalt und ich bin zu müde zum lesen.

I tied myself with wire
To let the horses run free
Playing with the fire until the fire played with me
Yeah

Draußen wird es nun endlich Herbst. Ich mag den Herbst, er ist jedesmal ein Versprechen auf Rückzug und Neubeginn. Alles Alte wird Stück für Stück abgeworfen, in einer feierlichen Zeremonie aus bunten Farben in umher wirbelnder Luft. Das raschelnde Laub bedeckt nun den Boden und zerfällt allmählich zu Konfetti. Der Herbstregen spült dann alles weg und die kürzer werdenden Tage fahren das System runter. Klingt nach Tiefenreinigung, denke ich, Tiefenreinigung hat eigentlich irgendwas mit Hauptpflege zu tun hat, sagt Google. Nun gut.
Ähnliches stelle ich mir auch für mich selbst vor: abwerfen, wegspülen, runterfahren. Das Selbst einfach mal als Konfetti durch den Kosmos wirbeln lassen und gucken, was entsteht.

Ich lehne meine linke Schläfe gegen die Fensterscheibe des Reisebusses: Sie ist kühl. Aber noch nicht kalt genug, um Brain Freeze zu bekommen. Zu deutsch: Kältekopfschmerz, das klingt nach ICD 10 und gleichzeitig sehr bürokratisch, dann doch lieber „ice cream headache.“ Die Reisebusvorhänge sind gelb, nein, curryfarben korrigiere ich mich selbst in Gedanken.

At the moment of surrender
Of vision over visibility
I did not notice the passers-by
And they did not notice me

Tiefenreinigung und Neubeginn.
Vielleicht mag ich das Dazwischen so gerne, weil es noch nicht entschieden ist, denke ich. Es ist nicht fest gelegt. Das Dazwischen ist ein endloser Neubeginn. Man weiß noch nicht, wie es wird, hat kein Bild. Im Neubeginn steckt immer ein Gefühl der Vorfreude und der Glaube daran, das alles anders wird.

To the rhythm of my soul
To the rhythm of my unconsciousness
To the rhythm that yearns
To be released from control

Das alles anders wird. Wieso will ich das alles anders wird, frage ich mich plötzlich. Und wenn, wie soll es denn anders werden? Und was ist alles? Was soll am Ende, also nach dem Herbst, aus dem Kokon schlüpfen? Ich bin überfragt und stelle mir curryfarbene Eiscreme vor. Das hilft für den Moment.

Die Italienerinnen in schwarz fragen sich derweil, in welche Stadt wir fahren. Zwischenstation für sie, denke ich, sie wollen nach Frankfurt. So viel habe ich verstanden. Ich packe langsam meine Sachen zusammen. Im Busgang riecht es nach Putzmittel. Endstation für mich, ich steige aus.

I did not notice the passers-by
And they did not notice me

Die Luft draußen ist feucht. Eine Trambahn rollt langsam von rechts an, während ich über die Straße laufe. Der Kioskinhaber lehnt an der Tür und raucht.

Später sagt F. : „Dein Herbst ist mein Frühling.“
Und ich antworte: „Ja, Frühling mag ich nicht. Zumindest nicht, wenn alles noch am Knospen ist. Dann sieht es draußen richtig schlimm aus. Kahl und matschig. Erst wenn alles blüht, ist es ok.“
F. lacht.